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Hausarzt, Facharzt, „ticket“: Die ambulante Medizin in Italien

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Ein Facharzt führt bei einer Patientin eine Ultraschalluntersuchung durch. Ein typischer Ablauf in der ambulanten Versorgung, bei der sowohl Haus- als auch Fachärzte in Italien eine zentrale Rolle spielen. (Symbolfoto: © Bastian Glumm)
Ein Facharzt führt bei einer Patientin eine Ultraschalluntersuchung durch. Ein typischer Ablauf in der ambulanten Versorgung, bei der sowohl Haus- als auch Fachärzte in Italien eine zentrale Rolle spielen. (Symbolfoto: © Bastian Glumm)

Wer von Deutschland nach Italien zieht oder länger dort lebt, steht früher oder später vor der Frage: Wie finde ich hier eigentlich einen Hausarzt? Und wie komme ich zum Facharzt, wenn das Knie schmerzt oder ein Hautproblem abgeklärt werden muss? Auf den ersten Blick wirkt vieles vertraut, doch beim genaueren Hinsehen ist das italienische System der ambulanten Versorgung deutlich anders organisiert als das deutsche.

Staatlicher Gesundheitsdienst statt Krankenkasse

Italien kennt keine gesetzlichen Krankenkassen wie Deutschland, sondern einen staatlichen, überwiegend steuerfinanzierten Gesundheitsdienst: den Servizio Sanitario Nazionale, kurz SSN. Er garantiert allen rechtmäßig in Italien lebenden Menschen eine medizinische Grundversorgung, unabhängig vom Einkommen. Organisiert wird dieser Gesundheitsdienst vor allem von den Regionen. Das führt zu spürbaren Unterschieden bei Leistungen und vor allem bei Wartezeiten. Was in der Lombardei noch halbwegs schnell geht, kann in Kalabrien Monate dauern.

Finanziert wird das System über allgemeine Steuern und zweckgebundene Abgaben, zusätzlich zahlen Arbeitgeber Beiträge ein. Für Versicherte selbst gibt es in der Regel keine monatliche „Kassenrechnung“ wie in Deutschland. Dennoch ist medizinische Versorgung nicht immer komplett kostenlos: Gerade bei Facharztterminen, Diagnostik und bestimmten Medikamenten spielen Zuzahlungen – das berühmte „ticket“ – eine sichtbare Rolle. Gleichzeitig sind die meisten hausärztlichen Kontakte für eingeschriebene Patientinnen und Patienten kostenlos.

Tessera sanitaria: Die italienische Gesundheitskarte

Der Zugang zum System läuft über die tessera sanitaria, die blaue Gesundheitskarte. Wer in Italien offiziell lebt, also einen Wohnsitz und gegebenenfalls einen Aufenthaltstitel hat, kann sich beim örtlich zuständigen Gesundheitsamt, der Azienda Sanitaria Locale (ASL), in den SSN einschreiben. Voraussetzung ist zunächst der codice fiscale, die italienische Steuernummer. Ohne sie geht fast nichts, weder beim Mietvertrag noch bei der Krankenversicherung.

Mit codice fiscale und Meldebestätigung geht es zur ASL, dort erfolgt die Einschreibung in den SSN. Anschließend wird die tessera sanitaria ausgestellt, die meist per Post zugeschickt wird. Diese Karte funktioniert ähnlich wie die elektronische Gesundheitskarte in Deutschland: Man legt sie bei Arztbesuchen oder in der Apotheke vor und weist sich damit als Versicherte oder Versicherter im öffentlichen System aus.

Für Urlauberinnen und Urlauber aus Deutschland gilt ein anderer Mechanismus. Mit der Europäischen Krankenversicherungskarte (EHIC/TEAM), die auf der Rückseite der deutschen Gesundheitskarte aufgedruckt ist, haben sie Anspruch auf medizinisch notwendige Behandlungen zu denselben Bedingungen wie italienische Versicherte. Das bedeutet: Im Notfall oder bei akuten Erkrankungen übernimmt die deutsche Krankenkasse die Kosten so, als wäre der Patient Italiener. Und zwar inklusive der dort üblichen Zuzahlungen. Für planbare Behandlungen, Langzeittherapien oder eine „Rundumversorgung“ reicht die EHIC allerdings nicht aus.

Der Hausarzt als Lotse: „medico di base“

Herzstück der ambulanten Versorgung in Italien ist der Hausarzt, der medico di base oder medico di medicina generale. Er ist die erste Anlaufstelle für Alltagsbeschwerden, betreut chronisch Kranke und öffnet den Weg zum Facharzt. Anders als in Deutschland, wo viele Patientinnen und Patienten direkt zum Orthopäden oder Dermatologen gehen, ist der Hausarzt im italienischen System klar als Gatekeeper vorgesehen.

Nach der Einschreibung in den SSN wählt man sich in der ASL einen Hausarzt aus einer Liste zu. In einigen Regionen ist das inzwischen online möglich, andernorts geht man dafür noch persönlich zur Behörde. Jeder Hausarzt darf nur eine begrenzte Zahl von Personen betreuen, in der Regel bis zu 1.500. Ist diese Obergrenze erreicht, kann er niemanden mehr neu aufnehmen. In beliebten und belebten Stadtvierteln kann die Suche nach einem freien medico di base daher durchaus zur Geduldsprobe werden.

Auch ein Wechsel des Hausarztes ist möglich, aber mit mehr Bürokratie verbunden als in Deutschland. Man geht nicht einfach zu einem anderen Arzt und steckt die Karte in das Lesegerät, sondern beantragt den Wechsel bei der ASL. Erst wenn dieser dort eingetragen ist, gilt der neue Arzt offiziell als zuständig.

Moderne Behandlungs- und Infusionsstühle in einer ambulanten Praxis. Ein Beispiel für die Ausstattung, die Patientinnen und Patienten in vielen italienischen und deutschen Facharztpraxen erwartet. (Foto: © Bastian Glumm)
Moderne Behandlungs- und Infusionsstühle in einer ambulanten Praxis. Ein Beispiel für die Ausstattung, die Patientinnen und Patienten in vielen italienischen und deutschen Facharztpraxen erwartet. (Foto: © Bastian Glumm)

Diagnose und Behandlung bei vielen Erkrankungen

Der medico di base übernimmt Diagnose und Behandlung bei vielen Erkrankungen, schreibt Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen, stellt Rezepte aus und begleitet chronische Patientinnen und Patienten langfristig. Er verordnet Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen, soweit diese im regionalen Leistungskatalog vorgesehen sind, und er entscheidet vor allem, wann der Gang zum Facharzt notwendig ist.

Immer noch zum Alltag vieler Praxen gehören Hausbesuche, die visite domiciliari, etwa bei älteren oder immobilen Menschen. Wie großzügig sie angeboten werden, variiert spürbar von Region zu Region und von Arzt zu Arzt. Abgerechnet wird der Hausarzt in der Regel pauschal pro eingeschriebenem Patienten mit dem SSN. Für die Versicherten selbst fallen normalerweise keine Kosten für den Besuch an, abgesehen von einzelnen Sonderleistungen oder Attesten.

Kinder beim Spezialisten: „pediatra di libera scelta“

Für Kinder ist in Italien häufig nicht der klassische Hausarzt zuständig, sondern ein spezialisierter Kinderarzt: der pediatra di libera scelta. Eltern wählen diesen Kinderarzt ebenfalls über die ASL aus. Auch hier gibt es eine Obergrenze der betreuten Kinder pro Arzt, meist um die 800. Damit erhält der Nachwuchs von Anfang an eine sehr spezialisierte Betreuung.

Ohne „impegnativa“ zum Facharzt geht wenig

Wer im öffentlichen System eine Facharztpraxis aufsuchen möchte, braucht in der Regel eine impegnativa, die Überweisung des Hausarztes. Der Ablauf ist klar: Erst zum medico di base, der entscheidet, ob ein Facharztbesuch nötig ist, dann mit der Überweisung zur Terminbuchung.

Je nach Region erfolgt die Terminvergabe über zentrale Systeme, telefonisch, online, direkt in der ASL oder sogar in der Apotheke. Für die Leistung fällt meist eine Zuzahlung an, das ticket. Einige Gruppen – etwa Menschen mit niedrigem Einkommen oder bestimmten chronischen Erkrankungen – sind davon befreit. Wer ohne Wartezeit direkt eine Praxis kontaktiert, landet fast immer im privaten Sektor und zahlt das volle Honorar.

Wartezeiten waren und sind Italiens Dauerthema

Wartezeiten sind einer der größten Kritikpunkte am italienischen System. Nicht dringliche Facharzttermine oder bildgebende Untersuchungen können Wochen bis Monate dauern, das je nach Region und Fachgebiet. Italien versucht, durch Prioritätssysteme die dringlichsten Fälle schneller zu versorgen, doch im Alltag bleibt die Belastung hoch. Viele Italiener weichen deshalb auf private Angebote aus.

Wartende Patientinnen und Patienten in einem Flur einer ambulanten Einrichtung. Ein alltägliches Bild, das auch die Bedeutung von Organisation und Wartezeiten im italienischen Gesundheitssystem widerspiegelt. (Foto: © Bastian Glumm)
Wartende Patientinnen und Patienten in einem Flur einer ambulanten Einrichtung. Ein alltägliches Bild, das auch die Bedeutung von Organisation und Wartezeiten im italienischen Gesundheitssystem widerspiegelt. (Foto: © Bastian Glumm)

Das „ticket“: Zuzahlung statt Monatsbeitrag

Das ticket begegnet Patienten an vielen Stellen: bei Facharztbesuchen, bildgebender Diagnostik, einigen Medikamenten und teilweise bei unnötigen Notaufnahmebesuchen. Die Höhe der Zuzahlung variiert regional. Befreit sind unter anderem Menschen mit geringem Einkommen, Patientinnen und Patienten mit bestimmten chronischen oder seltenen Erkrankungen sowie Schwangere innerhalb definierter Programme. Die Logik unterscheidet sich klar von der deutschen, wo regelmäßige Kassenbeiträge gezahlt werden, Zuzahlungen aber stärker auf Medikamente und Hilfsmittel konzentriert sind.

Neben dem öffentlichen Gesundheitsdienst existiert ein breiter privater Markt. Viele Ärztinnen und Ärzte arbeiten sowohl im SSN als auch privat. Privatpraxen sind eine Möglichkeit, Termine ohne lange Wartezeiten zu bekommen, allerdings gegen volles Honorar. Besonders typisch ist die libera professione intramoenia: Fachärzte bieten dabei private Leistungen innerhalb öffentlicher Einrichtungen an. Für die Patienten bedeutet das schnelle Termine und freie Arztwahl, allerdings zu einem deutlich höheren Preis als im SSN. Private Zusatzversicherungen sind weit verbreitet und ermöglichen den Zugang zu privaten Leistungen oder die teilweise Erstattung der Kosten.

Italien und Deutschland im Vergleich

Italien arbeitet strenger mit dem Hausarzt als Gatekeeper: Ohne Überweisung kein Facharzt im öffentlichen System. In Deutschland ist der direkte Gang zum Spezialisten deutlich üblicher. Die Bindung an einen Hausarzt ist in Italien formell, in Deutschland informell. Das Finanzierungssystem unterscheidet sich ebenfalls. Italien nutzt Steuern und Arbeitgeberbeiträge, während in Deutschland prozentuale Krankenkassenbeiträge direkt vom Einkommen abgeführt werden. Auch Zuzahlungen sind anders verteilt.

Wer dauerhaft nach Italien zieht, sollte frühzeitig den codice fiscale beantragen, den Wohnsitz anmelden und sich bei der ASL in den SSN einschreiben. Danach gilt es, einen Hausarzt zu finden, in manchen Regionen nicht trivial. Für Menschen mit regelmäßigem Facharztbedarf kann eine private Zusatzversicherung sinnvoll sein. Urlauber sollten immer die Europäische Krankenversicherungskarte mitführen und bei akuten Problemen möglichst zuerst eine Praxis oder den Bereitschaftsdienst aufsuchen. Der Praxisalltag ist oft weniger digital als in Deutschland, aber medizinisch gut strukturiert und wohnortnah organisiert.

Ein solidarisches System mit italienischen Besonderheiten

Der italienische Gesundheitsdienst bietet eine breite Grundversorgung, die allen offensteht. Gleichzeitig prägen Wartezeiten, regionale Unterschiede und der starke Fokus auf den Hausarzt den Alltag. Wer die zentralen Begriffe – tessera sanitaria, medico di base, impegnativa und ticket – kennt und bereit ist, im Zweifel private Angebote zu nutzen, wird sich im italienischen System gut zurechtfinden. Mit etwas Geduld und italienischer Gelassenheit lässt sich der medizinische Alltag entspannt meistern.

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